Die elektrische Luftfahrt steht heute da, wo wir vor 10 Jahren mit Elektroautos waren

Elektrische Antriebe, neue Designkonzepte

Zu Beginn einer Entwicklung ist es jeweils schwer vorstellbar, wie ein grundlegend neuer Antrieb das Fahrzeug- oder eben auch Flugzeug-Konzept verändern, sein Geschäftsmodell neu definieren, aber vor allem verbessern wird. Der bekannte Zukunftsforscher, Ingenieur und Pilot Morell Westermann nimmt die «Cockpit»-Leserinnen und -Leser im Verlauf einer dreiteiligen Serie mit auf eine Reise in die nahe Zukunft.

In dieser Serie werden Sie entdecken, wie Drohnen, Flugtaxis, elektrische Flugzeuge und hybrid-elektrische Langstrecken-Airliner die Mobilität verändern, neue Geschäftsmodelle erschliessen – und dabei dennoch den Ansprüchen an den Klimawandel gerecht werden können.

Es wird schneller gehen, als die meisten erwarten

Roadster vs e air race

Denken wir nur zehn Jahre zurück – da konnte sich kaum jemand vorstellen, dass Teslas zum gängigen Strassenbild gehören und Fahrleistungsrekorde der Verbrenner mühelos brechen könnten. Heute haben praktisch alle Hersteller elektrisch betriebene Fahrzeuge im Angebot oder konkret angekündigt. Die Zeit ist schnell vergangen, scheint es. Wie im Flug.

Wenn wir jetzt zehn Jahre in die Zukunft der Luftfahrt schauen, gibt es gute Gründe anzunehmen, dass wir elektrische Flugzeuge für selbstverständlich halten und diese erheblich anders aussehen werden, als wir das heute gewohnt sind. Wer hätte 2008 gedacht, das wir mal elektrische e-Air-Racer fliegen werden? Und wer kann sich heute schon vorstellen, dass wir 2030 in elektrischen Personen-Drohnen fliegen werden?

Bei Vorträgen zu diesem Thema kommt aus dem Publikum üblicherweise eine Mischung aus «die Batterien sind zu schwer, die Reichweite zu klein, das wird niemals fliegen oder ist viel zu teuer». Unisono: «So schnell wird das alles nicht gehen.»

Es ist ein menschliches Phänomen, dass wir Zeit rückblickend als sehr schnell vergangen wahrnehmen. Dabei unterschätzen wir massiv, was in ferner Zukunft (~10 Jahre) möglich sein wird, und überschätzen die Möglichkeiten von kleinen Zeiträumen (~2 Jahre). Uns auszumalen, wie es in der Zukunft aussieht, fällt sehr schwer. Dabei sind technische Entwicklungen in gewisser Weise vorhersehbar, da Technologien aufeinander aufbauen, sich gegenseitig beschleunigen oder erst ermöglichen.

Tipping Points

Die Vorhersehbarkeit jedoch endet an sogenannten Tipping-Points oder Wendepunkten: disruptive Veränderungen in Systemen, die sich nicht angekündigt haben. Die Corona-Krise ist so ein Beispiel.  Eine Pandemie an sich war generell zu befürchten, aber wer hätte jemals gedacht, dass es möglich wäre, den Flugverkehr innerhalb weniger Tage de facto lahmzulegen?!

Der Klimawandel ist ein anderes Beispiel. Mit Einschränkungen für den Klimaschutz haben wir uns bisher schwergetan. Bei langsamen und lange unsichtbaren Veränderungen bei so wenig Greifbarem, fällt es uns schwer, unser Verhalten zu verändern. Das, obwohl die Auswirkungen für die Zukunft klar interpolierbar sind und auch hier das Überschreiten eines Tipping Points (z.B. 1,5°C Erwärmung im Jahresdurchschnitt) disruptive Veränderungen, wie das Auftauen der Permafrostböden, unumkehrbar machen wird, da dieser Vorgang eine unaufhaltsame Kettenreaktion auslösen wird.

Corona und der Klimawandel

Die weltweite Corona-Pandemie dagegen hat innerhalb von wenigen Tagen die Flugbewegungen praktisch zum Erliegen gebracht. Es ist also möglich. Um dem Klimawandel zu begegnen, werden wir – jeder von uns, aber auch die Luftfahrtindustrie – unseren Beitrag leisten müssen, wobei hier alle Aspekte von Klimaschutz, Globalisierung, Reiselust und wirtschaftlicher Tragbarkeit berücksichtigt werden müssen, damit die Massnahmen und deren Auswirkungen akzeptiert werden. Die Elektrifizierung des Antriebs ist ein Aspekt, um die Luftfahrt klimafreundlicher zu gestalten. Und der elektrische Antrieb bietet noch viel mehr Vorteile als nur den CO2-neutralen Flug!

Neue Designkonzepte durch verteilte Antriebssysteme

Die Elektrifizierung des Antriebs öffnet den Designspace des Flugzeugbaus in faszinierende Dimensionen und ermöglicht es innovativen und kreativen Entwicklern, völlig neue Flugzeugtypen zu entwerfen. Mit Antrieben an Stellen, die bis vor kurzen undenkbar waren und bei denen auch Piloten nicht auf den ersten Blick erkennen können, in welche Richtung die Fluggeräte fliegen. Machen wir den Test am Beispiel Lilium Jet (grosses Bild links): Fliegt die Maschine von uns weg oder auf uns zu?

Lilium Jet over Manhattan, New York City

In diesem Rendering fliegt der Lilium Jet auf New York zu, die Flugrichtung ist vor allem an der Form der Winglets zu erkennen. Die ungewöhnliche Triebwerkskonfiguration (36 Impeller!), die Entenflügel und das fehlende Seitenleitwerk machen es schwer, die Flugrichtung zu identifizieren. Diese Konfiguration wäre übrigens weder mit fossilem Antrieb zu realisieren noch von Menschenhand zu fliegen. 36 Schubhebel, Schubvektoring, die fehlende Stabilisierung einer Seitenflosse und der aerodynamisch komplexe Übergang vom senkrechten in den horizontalen Flug übersteigen die menschlichen Fähigkeiten. 36 individuell ansteuerbare Impeller mit einem fossilen Antrieb wären ohnehin mechanisch nicht sinnvoll zu synchronisieren.

Das Design ist der Sklave des Antriebs

Ein Flugzeugdesign war schon immer der Sklave des Antriebskonzepts. So wird deutlich, dass ein elektrisches oder auch hybrid-elektrisches Antriebssystem das Grundkonzept eines Flugzeugs vollständig neu denken lässt.

eviation-alice

Die Eviation Alice ist ein weiteres Beispiel mit einem ungewöhnlichen Antriebskonzept, welches ausgeprägte aerodynamische Vorteile hat. Die frei an- und abgeströmten Propeller an den Wingtips wären zum einen mit schweren, fossilen Antrieben nicht machbar. Zum anderen aber ermöglicht allein diese Neukonfiguration des Antriebs massive Effizienzgewinne, der verbesserte Wirkungsgrad des Gesamtantriebssystems wäre auch mit aufwändiger Weiterentwicklung von Kolben oder Turbinen-Antrieben schlicht nicht mehr möglich.

Auf der Website https://transportup.com/the-hangar findet sich eine umfangreiche Sammlung verschiedener Projekte zukünftiger Fluggeräte. Wenn auch nur ein Bruchteil der dort gezeigten Entwicklungen tatsächlich «zum Fliegen kommt», werden wir völlig neue Silhouetten von Fluggeräten am Himmel bestaunen können. Wenn aber der Luftraum von all diesen neuen Fluggeräten beansprucht wird – welche Geräuschkulisse werden wir zu erwarten haben?

Lärmemissionen

Bei all den neuen Möglichkeiten von Antrieb, Werkstoffen und Design: die Physik ist nicht zu überlisten. Wenn elektrische Senkrechtstarter betrachtet werden, kann die Lärmbelästigung schon anhand der Propellerkreisflächenbelastung und der Blattspitzengeschwindigkeit grob geschätzt werden. Grosse, langsam drehende Propeller sind da klar im Vorteil. Ein Lilium Jet ist vielleicht nicht nur zufällig auf all den Youtube-Videos mit angenehmer Musik statt realer Geräuschkulisse unterlegt. Im Vergleich dazu ist der Volocopter schon vor Zuschauern geflogen und war dabei «überraschend» leise. Wir können also erwarten, dass VTOL (Vertical take off and landing)-Konzepte mit relativ geringen Flächenbelastungen/Drehzahlen im heutigen Alltagslärm einer Grossstadt untergehen.

Wenn man noch davon ausgeht, dass diese Fluggeräte in dicht besiedelten Megacities auf den Hochhausdächern starten und landen, sollte der Abstand von der Lärmquelle schon so gross sein, dass diese Fluggeräte akustisch nicht mehr ins Gewicht fallen. Darüber hinaus gibt es kreative Ideen, den Lärm durch «gerichteten Gegenlärm» (ähnlich dem Active Noise Cancelling in den Piloten-Headsets) an der Quelle zu eliminieren.

Elektrisch angetriebene Flächenflugzeuge können schon aufgrund ihres praktisch geräuschlosen Motors erheblich leiser sein als ihre Kolben- oder Turbinen-Pendants. Die primäre Lärmquelle ist der Propeller und seine Platzierung am Rumpf: Laminar angeströmt wird er leiser sein als ein Pusher, der in den Wirbeln des Rumpfs arbeiten muss. Ein Propeller oberhalb der Tragfläche oder am Seitenleitwerk positioniert, kann von den lärmabschirmenden Eigenschaften der Tragflächen profitieren. Hier kommt es auf geschicktes Design an, um einen Kompromiss zwischen statischen, aerodynamischen und akustischen Bedürfnissen zu finden. Auch eine Mischung von elektrisch angetriebener und damit geräuscharmer Startphase und anschliessend konventionell angetriebenem Reiseflug kann die wahrgenommene Lärmbelastung am Boden stark beeinflussen.

Ausblick: Was das für Piloten bedeutet

Lilium Jet

In naher Zukunft werden leistungsfähige elektrische oder hybride Antriebe für Flugzeuge verfügbar sein. Damit öffnet sich der Designspace in faszinierende Dimensionen, für Flächenflugzeuge wie auch für Senkrechtstarter. Oder alle Mischungen davon.

Was es für uns Piloten oder Fluglehrer bedeutet, wenn diese neuartigen Fluggeräte aerodynamisch so instabil sind, dass sie ohne Fluglage-Computer nicht mehr in der Luft zu halten sind, betrachten wir im nächsten Blog-Artikel, der ab Mitte August erscheinen wird. Wer keinen Blog-Post von mir verpassen möchte abonniert sich den Newsletter hier

Wer noch tiefer in das Thema einsteigen möchte:

Podcast CLEANELECTRIC

Podcast Audiodump

 

 

In beiden Podcasts sind kurzweilige und knackige 3-4h Episoden entstanden. Ein Glück, das Internet hat ja Platz. Ganz im Gegensatz zum Fernsehen, bei dem es gerade mal ein paar Minuten-Beiträge geworden sind:

Die Zukunft der Luftfahrt im Schweizer Fernsehen (klick auf das Bild)

SRF “10 vor 10”

SRF Tagesschau

Dieser Artikel ist zu erst bei der Zeitschrift Cockpit erschienen

 

 

2 thoughts on “Die elektrische Luftfahrt steht heute da, wo wir vor 10 Jahren mit Elektroautos waren”

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